Von Haubentauchern, Schrauberkränzchen und dem Weihnachtskalender im November

Zu Lande, zu Wasser und in der Luft: so heißt die offizielle Formdeutung des Firmenemblems der Daimler-Motoren-Gesellschaft, hinlänglich bekannt als Mercedes-Stern, den man demnächst häufiger auf dem Planeten antreffen dürfte als das Firmenlogo der katholischen Kirche.


Gegensätzliche Richtungen, spitze Zacken, trotzdem ein rundes Ganzes

Mit ein bißchen Kreativität und gutem Willen könnte man den kreisgefaßten Dreizack auch für das perfekte Sinnbild einer anderen Glaubensgemeinschaft halten, zu der auch die Leserschaft von fünfkommasechs.de gehört: nämlich wir, die wir alle gern hinter dem Steuer eines klassischen Daimlers sitzen und am liebsten wie hypnotisiert auf den Stern am Ende einer möglichst langen Motorhaube schauen (die Coupéfahrer mal ausgenommen). Bei dieser sinnstiftenden Beschäftigung verstehen wir uns wortlos, und doch könnten wir als Individuen oft unterschiedlicher kaum sein. Aus „Zu Lande, zu Wasser und in der Luft“ würde dann „Es gibt solche, solche und solche“ werden.

Ich mache hier keinen Hehl daraus, daß mir mancher Zeitgenosse weniger sympathisch ist als andere. Ich darf dann aber meistens davon ausgehen, daß das auf Gegenseitigkeit beruht. Wenn man sich über den Weg läuft, bleibt so der Knüppel in der Tasche und man geht ordentlich miteinander um. Dadurch besteht die Chance, den jeweils anderen doch nicht endgültig in eine bestimmte Schublade gesteckt und als Flachgeist abgehakt zu haben. Meistens ist es ja so, daß man sich im wesentlichen nur über Internetforen oder Mails kennt. Oft wird man dann positiv (seltener negativ) überrascht, wenn man sich in der analogen Welt trifft – beispielsweise beim Haubentauchen.

Der gemeine Haubentaucher in seinem natürlichen Umfeld. Hier mit frühlingshaftem Federkleid direkt nach der Mauser. In der kälteren Jahreszeit zuvor bekommt man ihn meist nur mit Lederweste und/oder Fleece-Pullover vor die Kamera. Die natürliche Reaktion „Haube auf, Kopf hinein“ funktioniert hingegen ganzjährig

Bei jedem sind die Hirnwindungen nunmal anders gewickelt. Manche haben ein paar Knoten drin, andere einen allzu dicken Schädel, wieder andere tragen den Kopf ein wenig zu hoch in der Luft, weil nicht so viel viel Gewicht drin ist – den Schreiberling nicht ausgenommen. Wenn es um alte Mercedes geht, dann sind wir trotzdem Teil eines großen runden Ganzen, das je nach Pflegezustand mehr oder minder glänzt.

Das ist der Spirit, der für immer dann direkt erlebbar wird, wenn man an einem Stammtisch oder einer Ausfahrt teilgenommen oder ein sogenanntes Schrauberkränzchen besucht hat. Besonders letzteres ist eine gute Gelegenheit, die Menschen hinter den oft kryptischen Forennamen besser kennenzulernen. Ein zwangloses Zusammentreffen handwerklich sehr unterschiedlich begabter Altmercedesfahrer, die sich gegenseitig bei kleineren oder größeren Reparaturen helfen und dabei auch gerne Hopfenblütentee oder eine Gerstenkaltschale zu sich nehmen. Oft wird dann über den Sinn des Lebens oder das beste Lederpflegemittel philosophiert und man lernt sich dadurch viel besser kennen, als es am Bildschirm möglich wäre.


Im Rahmen eines der legendären Schrauberkränzchen unweit der Friedberger Warte im Frankfurter Nordosten werden die ausgeweideten Reste eines diamantblauen 560ers gemeinschaftlich rangiert, geparkt und abgedeckt. Der Herr im Blaumann ist der Gastgeber Jochen Kleiner
Die Wortschöpfung Schrauberkränzchen könnte dabei sogar von uns stammen, aus einem Blogeintrag damals, inspiriert durch unseren ersten Besuch bei einem solchen „betreuten Schrauben“ vor gut und gerne fünf Jahren. Inzwischen gibt es diese Tradition vielerorts – und wahrscheinlich gab es sie auch schon lange vorher. Ein Segen für den wachsenden Teil der Menschheit, der bar jeder motorischen Fähigkeit oder eines technischen Grundverständnisses zur Welt gekommen ist, und trotz dieser schweren Behinderung unbedingt die dicke alte S-Klasse fahren muß: also mich!

Ins Leben gerufen hatte diese praxisorientierten Selbsthilfegruppen unweit meines Wohnorts ein netter Herr namens Jochen Kleiner, seines Zeichens gelernter Lackierer, nebenbei Hausmeister, Chef und einziger Mitarbeiter seiner Folientechnik-Firma, autodidaktischer Karosseriespengler, Liebhaber aller möglichen Klassiker, vor allem aber alter Siebener-BMWs und S-Klassen – und sicher einer der bekanntesten und beliebtesten Personen in der W126-Szene.

Müßte man Jochen in der Kuchengrafik des Mercedessterns irgendwohin einordnen, dann wohl ins Zentrum des Dreizacks – da wo sich alle drei Kuchenstücke treffen, und wo alles zusammengehalten wird. Irgendwie konnte er alle Richtungen gut miteinander verbinden und mit jedermann gut auskommen, egal wie schräg aus meiner (vielleicht engstirnigen) Sicht dessen Ansichten auch sein mögen. Immerhin, so denken wir oft, geht es ja um wichtige Glaubensfragen:
Darf man eine alte S-Klasse mit Chrom-Radläufen oder weißen Blinkern verschandeln? Ist andererseits reiner Originalismus nicht gähnend langweilig? Ist ein „Buchhalter“ nicht doch interessanter als der behauptete „Vollausstatter“? Sollte man so einen Youngtimer wirklich noch im Alltag fahren oder nicht doch lieber schonen? Darf man sich als Altmercedesfan auch in einem BMW sehen lassen? Warum tun manche so, als seien sie nach dem Kauf eines 2000-Euro-Gebrauchtwagen nun Vorstandsvorsitzender, kleiden sich aber weiterhin mit Tennissocken in Sandalen?
Quälende Fragen, die Jochen alle ohne viel Aufhebens beantworten konnte: nämlich einfach mit einem Achselzucken – und gut is! Denn manche Gegensätze sind vielleicht gar keine und manche Spleens sind zwar zum Lachen, aber letztlich irrelevant, weil es bei unserem Hobby sowieso um etwas ganz anderes geht. Spaß haben, hilfsbereit sein und Hilfe annehmen, gegenseitig voneinander lernen, vor lauter Schrulligkeit der anderen nie die eigenen nervigen Macken übersehen. Auf einen Punkt gebracht: gemeinsam eine gute Zeit haben, solange man sie hat.

Das Schrauben habe ich von Jochen nun trotzdem nicht gelernt, aber seine Philosophie hat mich bis heute zum Nach- und Umdenken gebracht. Seitdem bin ich gelassener, auch wenn ich mal wieder mit jemandem zu tun habe, der mir gegen den Strich geht. Es funktioniert!

„If tomorrow never comes“ war ein gern zitierter Songtitel und Leitsatz von Jochen, den er immer dann bemühte, wenn er von tragischen Unfällen erfuhr oder sie sogar selbst miterleben mußte. „Carpe diem“ hätte man dann anfügen wollen, aber für Jochen hätte sich das zu sehr nach Lateinunterricht angehört – und wenn jemand den Tag wirklich nutzte, dann ohnehin er.


Marc „Dreikommanull“ Christiansen mit Jochen im Sommer 2008 beim prophylaktischen Wechsel der Heckscheibendichtung. Jochen hatte dazu eine eigene, äußerst geniale Methode zum Wiedereinpassen der Dichtung parat und führte solche Arbeiten wahrscheinlich gewissenhafter durch als mancher „Fachbetrieb“
Für Kalendersprüche stand er sowieso viel zu sehr im Leben, mochte man meinen. Lieber sinnierte er schonmal darüber, daß der 126er einen „Schnuddel“ namens „Scheibenwischerbremse“ hat oder zwei „Bananen“ (gemeint ist der Spritzwasserschutz in den hinteren Kotflügel, der von vielen unbemerkt oft schon seit Jahren abhanden gekommen ist). Verblüffen konnte er aber vor allem mit seiner Handwerkskunst und der großen Geduld, diese uns Laien weiterzuvermitteln – wobei er sich dann gerne auch selbst als Laien bezeichnete und damit tiefstapelte, bis es wehtat.
Eine andere große Leidenschaft: Sonderausstattungen – und seien sie noch so unbedeutend – machten ihm die größte Freude. Auf dem Altmercedes-Stammtisch in Hofheim stellte er gerne seine neuesten Errungenschaften vor. Sei es seine neueste Auto-Anschaffung, die „Sauerkirsche“, oder aber einen winzigen Schalter für eine Freisprecheinrichtung in einer ebenso winzigen Original-Ersatzteile-Schachtel mit Teilenummer und Siegel.
Zum Nachtisch gab es für ihn dann immer Vanilleeis mit Schokosauce. Wenn ich gerade mit der Kamera in Rufweite war, gab er rechtzeitig bescheid, damit ich den Moment des Schokoladengießens auch bloß bildlich einfangen würde.

Aus Gründen, die wir nicht kennen und ohnehin nicht begreifen könnten, ist Jochen im Frühjahr 2012 aus freier Entscheidung aus dem Leben getreten.

Es vergeht seitdem kaum ein Tag, an dem wir nicht an ihn denken oder erinnert werden, und sei es nur wegen der Kleinigkeiten und Gimmicks, die er vielen von uns im Laufe der Jahre gebastelt hatte und die uns weiterhin im Alltag begleiten. Meistens tat er das einfach so – weil er jemanden gut leiden konnte.

In den Wochen vor seinem Geburtstag waren immer schon die ersten Schokoladen-Weihnachtskalender im Handel, und Jochen nutzte diesen günstigen Umstand, denn so konnte er die Zeit zu seinem Geburtstag genau einen Monat vor Heiligabend überbrücken. Gestern, am 24. November, hätte er das letzte Türchen aufmachen können: an seinem 49. Geburtstag!

Es gibt wichtigeres als alte Autos, und doch entstehen durch ein gemeinsames Hobby manchmal wunderbare Bekanntschaften, vielleicht sogar Freundschaften. Wenn der schmerzliche Abschied von Jochen zu irgendetwas gut war, dann vielleicht, um sich genau das immer wieder vor Augen zu führen und es schätzen zu lernen, bevor es dazu zu spät ist.

PS: Jochen ist entgegen unserer Annahme Jahrgang 1963. Die runde 50, wie in einer früheren Version dieses Textes behauptet, hätte er somit erst nächstes Jahr erreicht. Vermißt wird er trotzdem – auch außerhalb solcher Jubiläen.

Fotos: ©fuenfkommasechs.de

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