Tag 2 in Nardò: die Pioniere der „C-Klasse“ W201 auf der Weltrekordstrecke und beim Kamingespräch (VIDEO)

14. November 2013 – mein zweiter Tag in Südostitalien. Heute soll es endlich an den Ort der Rekorde gehen: eine Besichtigungstour durch das riesige „Nardò Technical Center“, wie die von Porsche betriebene Teststrecke heute heißt. Schon die Fahrt dorthin wird zum großartigen Erlebnis.

Blick aus Westen auf das Nardo Technical Center im „Stiefelabsatz“ von Italien | Foto: Porsche AG

Von unserem Hotel in Lecce bis dorthin wird der kleine Bus etwa eine Dreiviertelstunde brauchen, die mir wie 5 Minuten vorkommt. Um mich herum sitzen die Zeitzeugen, die ich bereits am Vorabend kennenlernen durfte, und tauschen ihre Erinnerungen aus. Ich darf Mäuschen spielen und zuhören. Wehe wenn jetzt irgendwer belanglosen Smalltalk anfängt – mich eingeschlossen!

Gottseidank bleibt der Redefluss der „alten Daimler“ konstant, und ich kritzele einen kleinen Notizblock aus dem Hotelzimmer mit Stichworten voll – so gut das eben mit Gipsarm geht – um mich wenigstens an einige dieser irrwitzigen Anekdoten später erinnern zu können.

Spätzle statt Spaghetti

Eine Spätzlepresse im Einsatz | Foto via Wikimedia Commons

Da wäre zum Beispiel die mitgebrachte Spätzlemaschine in der Fahrerunterkunft, die übrigens bis heute dieselbe ist (nicht die Spätzlepresse, aber das Hotel). Die Testingenieure hatten eben gern den Italienern mal ihr Lieblingsessen von daheim zubereiten wollen. Als dann eines Tages auch ein eisgekühlter Sauerbraten von niemand geringerem als Rekordfahrer Robert Schäfer per Mercedes-Testwagen in Rekordzeit aus dessen Heimat Neckarsulm bis hierhin nach Süditalien verfrachtet und frisch zu den Spätzle serviert werden konnte, sei die Liebe der Italiener für deutsches Essen endgültig entbrannt gewesen.

Vergnügte Gesichter auf sämtlichen Plätzen, obgleich wir gerade durch schwere Turbulenzen kommen: ein Schlagloch reiht sich an das nächste! Über Land gibt es zwar – im Gegensatz wohl zu 1983 – breit ausgebaute Schnellstrassen. Aber jetzt und hier scheint alles so wie früher zu sein.

Die sogenannte „Heidestrecke“ auf der Einfahrbahn in Untertürkheim ist das in Beton gegossene Ebenbild eines Feldweges in Norddeutschland | Foto: Daimler AG

„Die Fahrten zur Teststrecke haben wir manchmal schon ins Testprogramm mit aufgenommen – als Schlechtwegestrecke!“ sagt Herr Schäfer grinsend. Zu Hause hat man diese Strassenqualität damals lange suchen müssen, weswegen sich seit einigen Jahrzehnten die Reproduktion eines solchen Schlagloch-Weges (ein Feldweg in der Lüneburger Heide) als Betonabguss in Untertürkheim befindet, als Bestandteil der dortigen Einfahrbahn. Hier in Apulien braucht es das (noch) nicht, wie es unser aller Bandscheiben auch zu spüren bekommen – in manchen Teilen Westdeutschlands ist das inzwischen aber nicht anders.

Selbstredend sind in Nardò nicht nur Fahrwerksabstimmungen vorgenommen worden. Auf dem Hochgeschwindigkeitskurs geht es vor allem darum, den Motoren alles abzuverlangen – längst nicht nur bei Rekordfahrten wie der des Sechzehnventilers 1983. Die Unterhaltung im Bus geht kreuz und quer durch alle Bauformen und Motorengenerationen. So sei der M103 „eigentlich kein guter Motor“ gewesen – „aber der Sound war toll!“

Letzteres ist eine Aussage, die auch ich als M117-Fan bestätigen kann. Das Turbinenartige des Reihensechsers hat wirklich was! Aber wie würde ich daheim in Deutschland den anderen Teil der Aussage dem Herrn Dreikommanull schonend beibringen können? Andererseits: wer weiß, was die Herren Ingenieure alles rückblickend über meinen M117 gesagt hätten, wenn nur das Thema darauf gekommen wäre.

Der streng geheime Fünfzylinder-Mercedes von Nardò

Bei Tests der Antiklopf-Regelung (AKR) sei es hier in Nardò natürlich auch zu Ausfällen gekommen. Erwartbar aber eben doch sehr zum Ärgernis von Motorenpapst Kurt Obländer, der darauf bestanden haben soll, dass die Testwagen unter allen Umständen auf eigener Achse wieder nach Deutschland zurückkehrten. So habe man die verschmorten Kolben gezogen und hatte dann statt zwei Sechszylinder-Fahrzeugen im Ergebnis einen 4- und einen 5-Zylinder, die trotz ihrer unfreiwilligen Zylinderabschaltung beide ohne weitere Zwischenfälle wieder in Stuttgart angekommen seien.

Kurt Obländer (Mitte) während der Rekordfahrt in Nardo (13. bis 21. August 1983). Links Hans Werner, daneben Hans Liebold und rechts Erich Waxenberger, der das „Team rot“ leitete | Foto: Daimler AG

Das Regengeheimnis des Robert Schäfer

Wenn drei baugleiche Fahrzeuge mehr als eine Woche lang eine Durchschnittsgeschwindigkeit (!) von über 247 km/h aufrecht erhalten und dabei wechselseitig gleich mehrere Rekorde aufstellen, ist es am Ende nicht so entscheidend, wer zuerst die 50.000-km-Marke erreicht haben würde, von der heute noch alle sprechen. Geschafft haben es alle, auch „Team grün“, das die einzigen Zwischenfälle der gesamten Rekordfahrt erdulden mußte (mehr dazu im Video am Ende des Artikels).

Helm und Maskottchen des Rekordfahrers

Siegerteam wurde letztlich „Team rot“ unter Erich Waxenberger und u.a. mit Rekordfahrer Robert Schäfer am Volant. Neben einem selbst herausgefahrenen Vorsprung habe ihm aber tatsächlich auch die Witterung zum „Sieg“ verholfen, gibt der 66jährige offen zu. Irgendwann habe es während der Marathonfahrt eben doch mal angefangen zu regnen. Die beiden anderen Teams seien daraufhin vor ihm an der Box gewesen zum Reifenwechsel und er habe mangels freiem Slot weiter draussen bleiben müssen – für weitere zwei Runden auf inzwischen rutschiger Fahrbahn, die den Vorsprung seines Teams aber letztlich zementieren konnten.

Ankunft mit Hindernissen

Unsere kleine Reisegruppe hat inzwischen den Perimeter der Teststrecke erreicht, die man an einer in weitem Radius verlaufenden Böschung erkennt. Zaun und doppelte Leitplanken darauf sind sporadisch von grüner Sichtschutzfolie verdeckt. Direkt dahinter mußte sie also sein, die Kreisbahn der 12,6 km langen fünfspurigen Fahrstrecke. In weiter Entfernung ragt der markante Tower auf, den man aus dem zeitgenössischen Video der Rekordfahrt kennt. Gänsehaut!

Irgendwo auf der Strada Provinciale 110 war uns zuvor ein äußerst gepflegter 190er in perfektem Originaltrim entgegengekommen. Selten genug sind die Autos hier überhaupt gepflegt geschweige denn beulenfrei. Die Wahrscheinlichkeit war also hoch, dass darin ein echter Liebhaber und Fan der Baureihe 201 gesessen hatte. Wenn der wüßte…!

Die Konstrukteure seines Autos hier im Bus hatten leider kaum Notiz davon genommen, sondern amüsieren sich viel mehr darüber, dass unser einheimischer Busfahrer den Abzweig zur Teststrecke verfehlt hatte. Das bedeutet nun einen U-Turn und nochmal zurück, dann abbiegen und unter der Kreisbahn durch ein Viadukt hindurch. Ich erkenne alles sofort wieder, denn per Google-Streetview war ich hier erst vorgestern – ich hätte also auch behilflich sein können ;-)


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Rückkehr nach 30 Jahren – und der Weltrekordwagen steht bereit

An der Schranke zum Testgelände wird es im Bus schlagartig stiller. Jetzt läuft das Kopfkino, denn vieles sieht hier wohl noch immer so aus wie zu der Zeit, als die Herren das letzte Mal in ihrer Funktion als Ingenieur, Testfahrer oder auch Baureihenchef das Gelände besucht haben.

Im „Nardò Technical Center“ herrscht absolutes Kameraverbot, und ans Filmen ist schon gleich gar nicht zu denken. Die Handykameras werden versiegelt und nur die Profifotografen haben Erlaubnis für ein Gruppenbild. Meine Ausrüstung habe ich deshalb im Hotel lassen müssen und fühle mich nun elend. Denn der spannendste Moment ist jetzt! Was hätte ich gegeben, das einzufangen, was sich in den Gesichtern von Robert Schäfer, dem Rekordfahrer, oder Gerhard Lepler, dem Teamleiter von damals abspielt. Heute, 30 Jahre danach, wieder hier – und eines der drei Rekordfahrzeuge wartet schon für das einzige an diesem Tage erlaubte Foto vor der Rekordtafel am Eingang.

Das einzig genehmigte Fotomotiv des Tages: ein Gruppenbild vor der Rekordtafel im Einfahrtsbereich des Testgeländes | Foto: Daimler AG

Ich weiß nicht mehr, was ich nach dem Aussteigen als erstes getan habe. Vielleicht den Boden geküsst? Auf jeden Fall bin ich wie unter Hypnose abseits der Gruppe durch die Umgebung gelaufen, habe parkierende Werkswagen aus Stuttgart angeschaut, die Rekordtafel studiert und jedes Detail des „16V“ unter die Lupe genommen.

Echte Patina oder Luthers Tintenfleck?

Der Wagen ist so verdreckt, dass er zu den Schwellern hin eher blauschwarzmetallic als rauchsilber wirkt. Aber ist das wirklich der originale Schmutz von damals? Ich bin wohl kaum der erste, der das mit einem Fingerwisch an unauffälliger Stelle herauszufinden versucht. Und siehe da: der „Dreck“ bleibt am Wagen, die Fingerkuppe bleibt sauber! Die Patina ist mit Klarlack konserviert, was ich hervorragend finde. So kann der unvermeidliche neue Schmutz aus 2013 nicht den „Rekordschmutz“ von 1983 kontaminieren. Allerdings habe ich immer noch so meine Zweifel, was dessen Originalität betrifft. Zu ausgenebelt und wie mit Sprühdose aufgetragen wirken die Flanken, und zu glatt der Lack – gerade an den windzugewandten Flächen, wo der Schmutz ja vor allem aus einer dicken Schicht Insektenkadaver bestehen müsste.

Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 des „Team weiß“ am darauffolgenden Tag auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke. Ob die Verschmutzungen wirklich original sind?

Nun ja, Luthers Tintenfleck auf der Wartburg soll sich jahrhundertelang auch wie von Geisterhand immer wieder erneuert haben. Hat das dem Reformationswerk je Abbruch getan? Ganz genauso verhält es sich auch hier: die Vierventiltechnik hat sich duchgesetzt – mit oder ohne echte Patina des Versuchsträgers. ;-)

Hinter vorgehaltener Hand erfahre ich später von einem Mitarbeiter, dass es sich mit den Rekordfahrzeugen von Nardò im Grunde ähnlich zugetragen haben könnte wie mit der Badewanne von Joseph Beuys. Irgendwann im Laufe der Jahre hatte es jemand „gut gemeint“ und das „Auto gewaschen“.

Für noch wahrscheinlicher halte ich aber, dass die Fahrzeuge damals von Anfang an nicht so sehr im Hinblick auf spätere Ausstellungen in ihrem Zustand konserviert wurden, sondern wie ganz normale Versuchsträger möglicherweise schon vor der Rückkehr nach Deutschland noch eben mal schnell „abgedampft“ worden sind.

„Haben Sie einen Heckscheibenwischer?“ lautet stets die Frage in der Waschanlage meines Vertrauens in Hanau. „Natürlich nicht, sehe ich denn so aus?“ möchte ich dann immer antworten. Der 190 E 2.3-16 hier in Nardò hat nicht einmal einen Frontscheibenwischer, geschweige denn Aussenspiegel. Vor dem Kühlergrill haftet einen Insektenschutzfolie, und die Scheinwerfer sind mit abnehmbaren Kunststoffkappen abgedeckt. In diesem Falle in weiß – die anderen beiden Fahrzeuge trugen grün und rot, eben die Nationalfarben unseres Gastlandes Italien.

Im Inneren des Rekord-190ers wimmelt es von Zusatzinstrumenten. Es gibt viele Sonderschalter und im Beifahrer-Fußraum ist offenbar die Funkzentrale untergebracht. Dieser 190er ist zweiffelos das Mercedes-Gebrauchtfahrzeug mit der bestdokumentierten Gesamtlaufleistung. Schließlich legte er die ersten gut 50.000 km seines Autolebens unter strenger Aufsicht der FIA zurück. Das Kombi-Instrument zeigt jetzt an diesem Vormittag des 14. November 2013 eine Laufleistung von exakt 51.608 km und einen Tageskilometerstand von 45,0 an. Dass dabei in der A-Säule immer noch der originale Service-Aufkleber prangt, der zur ersten Durchsicht bei 1500 km mahnt, ist eines der vielen wunderbaren Details, die ich mir am darauffolgenden Tag noch einmal in Ruhe anschauen werde.

Cockpit des Rekordwagens. Über die roten Lenkradknöpfe läßt sich die Sprechfunkanlage betätigen

„Herr Schlörb, hier sind sie?!“ ruft eine Mitarbeiterin sichtlich erleichtert. Es ist ein wenig wie beim Schulausflug, denn nicht nur ich habe mich in den letzten Minuten eher wie ein kleiner Bub im Spielzeugladen verhalten. Doch jetzt gilt es, sich wieder etwas zu disziplineren. Die Dame händigt mir einen Streckenpass für das Testgelände aus. Hier darf nämlich niemand verloren gehen – und wenn, dann sollte er zumindest diesen Ausweis tragen, der bei Betreten und Verlassen des Geländes registriert wird.

Sightseeing in der Sperrzone

Die anderen warten schon wieder am Bus, denn jetzt ist Sightseeing mit einer Führerin an Bord angesagt. Ein Van fährt voraus, damit sich unser Fahrer nicht wieder verirrt und wir möglicherweise noch pikantere Dinge zu sehen bekommen als ohnehin schon. Als wir losfahren, höre ich von irgendwo hinter uns ein markantes Motorengeräusch. Ich versuche halb im Stehen einen Blick über die Köpfe hinweg durch die Heckscheibe zu erhaschen und freue mich über den Anblick: der 16V folgt uns mit heiserem Fauchen bis zu unserer ersten Station: der Werkstatthalle von Mercedes-Benz, wo er neben anderen Juwelen aus der Klassik-Sammlung und aktuellen Erlkönigen geparkt wird.

Wieder die reine Folter für einen wie mich, der überall Fotomotive sucht und auch findet. Nicht weil wir hier an Erlkönigen und teils auch ungetarnten Erprobungsfahrzeugen vieler Hersteller vorbeifahren und ich mir einen „Money Shot“ für die Motorpresse erhofft hätte. Nein, ich hätte einfach nur dokumentieren wollen, wie ein Kätzchen in der Vormittagssonne unter dem getarnten C 63 AMG der Baureihe 205 sitzt und die Abwärme des Motors genießt. Und da kommt schon heisser Nachschub: ein foliertes S-Klasse-Coupé der Baureihe 217 parkt neben seinem Schwestermodell ein und erholt sich wohl von der Hatz über das Hochgeschwindigkeitsrund da draussen.


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Das bizarre an so einem Ort, von dem man sonst nur liest wenn es um Automobilgeschichte geht, ist dessen innere Normalität. Wenn man den vierten Porsche 918 auf der Dynamikfläche gesehen hat, dann wird das zwar nicht langweilig, aber so richtig neugierig wird man erst wieder, wenn man auf die Hochgeschwindigkeitspiste gelangt und dort ein voll getarnter Motorroller (!) auf der inneren Spur seine Kreise zieht, während er ganz aussen von Produkten aus Ingolstadt im Vmax-Bereich überrundet wird.

Vier Kilometer im Durchmesser misst der gewaltige Betonkreis und teilt sich in fünf Fahrspuren, die unterschiedlich stark in Längsachse geneigt sind. Die Steilwandkonfiguration dient dazu, den Fahrzeugen trotz der Kreisbahn einen seitenkraftfreien „Geradeauslauf“ zu ermöglichen. So braucht man auf der äußeren Spur bis 240km/h keinen Lenkeinschlag. Entsprechendes gilt auch für niedrigere Geschwindigkeiten, die dann auf einer der inneren Fahrspuren die wenigste Seitenkraft efahren.

Was man kaum mit bloßem Auge sieht, aber bei der Fahrt über die Distanz durchaus zu spüren bekommt: der Rundkurs liegt keineswegs auf einer perfekten Ebene, sondern es geht leicht bergauf und bergab. Ein Umstand, der während der Rekordfahrt von 1983 hin und wieder zu Nervositäten bei der Telemetriedaten-Auswertung geführt hat, wie Herr Lepler im Video am Ende dieses Artikels ausführt.

Unser Bus fährt das Rund mit geringem Tempo auf der innersten Spur ab, immer wieder umrundet von Versuchswagen, vornehmlich Geschosse aus dem italienischstämmigen Bereich der VAG-Welt und eher Bürgerliches aus Bayern. Aber auch eine E-Klasse der Baureihe 212 mit Tübinger Kennzeichen fährt in mäßigem Tempo auf einer mittleren Spur an uns vorbei. Auffallend sind dabei drei keilförmige Blöcke auf dem Dachgepäckträger, die mit ihrer stumpfen Seite in Fahrtrichtung zeigen und wohl als Strömungskörper den Luftwiderstand von Fahrrädern oder anderen Dachlasten simulieren sollen. Hier läßt wohl ein Zulieferer für Daimler testen, oder aber es werden für ein zukünftiges Modelljahr der E-Klasse (am Ende gar die Baureihe 213?) neue Befestigungs-Ports in der Dachkonstruktion getestet. Der Gedanke ist wahrlich unspektakulär, aber an diesem Ort ist irgendwie alles interessant weil geheimnisvoll.

So einen Dachgepäckträger jedenfalls, wenn er hier in Nardò entwickelt wurde, hätte selbst ich gerne. Und ich hatte weißgott noch nie Bedarf an Dachgepäckträgern…

Der kleine Nürburgring von Nardò


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Um etwas Benzinduft geniessen zu können halten wir am Handlingkurs, der inmitten des Geländes in einer Senke liegt und wo gerade die Aufbauarbeiten für die Hospitality in ihren letzten Zügen sind. Hier am Dreh- und Angelpunkt unserer morgigen Veranstaltung sind bereits einige Evos bzw. DTM-Boliden der Baureihen 201 und 203 entladen worden, haben aber teils noch ihren „Pyjama“ an.

Mika Häkkinens letztes Dienstfahrzeug aus der DTM wartet bereits an der zur Hospitality umfunktionierten Box des Handlingkurses

Einer steht etwas abseits im schwarzen Batman-Kostüm und zieht mich magisch an. Von der Silhouette her ein reinkarnierter 928, aber im Innenraum ein enger Verwandter des SLS. Das ist er wohl, der neue „GT“! Steht hier mit grüner „59“ auf der Windschutzscheibe (für „Research & Development“) und knistert vor sich hin, denn sein derzeitiges Testprogramm besteht aus Sprintübungen im Grenzbereich mit abrupten Pausen, um festzustellen, wie der schon jetzt im Tarnkleid bildschöne Sportler mit seinem neuen V8-Herzen die thermischen Belastungen verkraftet. Belastungs-EKG für den „SLS-Nachfolger“, der in Wahrheit wohl eher ein moderner SLC werden wird.

Mercedes-Benz GT AMG Erlkönig | Foto: Mercedes-Benz Passion Blog

Was für ein Auto, schon jetzt! Und irgendwie auch passend zum Anlass unseres Besuchs: hier gesellt sich ein sportlicher Mercedes der Zukunft zu seinem Pendant der Achtziger Jahre, wenigstens wenn man die Bezeichnung „Sportmercedes“ zugrunde legt, mit der der 190er auch gerne tituliert wird. Die Evos schauen jedenfalls mit Stolz auf ihren jungen Verwandten, das kann man deutlich sehen.

Dass unweit nun auch ein ebenso heißgefahrener S65 AMG anhält, Testpiloten mit Helmen entsteigen und mir einen freien Blick auf das Fahrzeug und das Testequipment im Innenraum überlassen, ist mir in dieser Sensationsdichte tatsächlich nur noch diesen einen Satz wert. Denn jetzt gerade steigt Robert Schäfer, der Rekordfahrer von 1983, nach kurzem Plausch mit den jungen Testingenieuren aus der S-Klasse in einen… darf man das hier schreiben?… Porsche Boxster Cabrio, weiß mit rotem Verdeck. Der Zweck heiligt die Fortbewegungsmittel: es geht um ein paar Einfahrrunden zum Kennenlernen des Handlingkurses, denn den gibt es hier noch nicht so lange. Das Fahrzeug stellt der Gastgeber (Porsche).


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Der Kurs mit seinen je nach Streckenauslegung bis zu 6,12 Kilometern Länge hat eine abwechslungsreiche Charakteristik mit vielen Kurven, Senken und Kuppen, sowie einer 900 Meter langen Gerade. Er ist eingebettet in die bei weitem am dichtesten bewaldete Fläche der gesamten Region. Sozusagen die „grüne Hölle“ von Apulien. Wenn Ihr aus der Karte oben herauszoomt, könnt Ihr Euch selbst ein Bild dieses höchst originellen Naturschutzraumes machen.

Vor einigen Jahren habe man seitens Daimler prüfen lassen, ob diese ganzjährig befahrbare Strecke im sehr wetterstabilen Nardò nicht auch eine lohnende Alternative für den Nürburgring sein könnte. Doch die Testfahrer seien damals ganz schnell wieder in die Eifel zurückgekehrt. Der Nürburgring wird in seiner Komplexität und seinem Anspruch an Fahrer und Fahrzeug wohl nie zu ersetzen sein, gerade auch für das Testprogramm eines Autoherstellers. Sehr zur Erleichterung von Robert Schäfer, dem Leiter a.D. der Mercedes-Versuchsfahrten auf Nürburgring und Hockenheimring, der die „grüne Hölle“ gleichsam als seine zweite Heimat ansieht.

190er-Cabriolet und „Stadtwagen“ – für mich der legitime Vorgänger der heutigen A-Klasse W176, wenn er es denn je in die Serie geschafft hätte

Während Schäfer nun also seine ersten schnellen Runden hier auf dem „kleinen Nürburgring“ im Zuffenhausener Zahnarztgattinen-Roadster macht, spaziere ich zu den Sindelfinger Stars unseres morgigen Events: da ist nämlich gerade auch der berühmte „Stadtwagen“ entladen worden, in Fankreisen als „Ushido“ bekannt! Die Motorhaube ist geöffnet und man hat freie Sicht auf das Innenleben eines echten Prototypen der frühen Achtziger Jahre. Die Karosserie ist mit einem Messraster überzogen! Und kommt uns dieser Türgriff hier nicht auch bekannt vor?

Leihgabe aus Wolfsburg: der Türgriff des „Stadtwagen“-Prototyps stammt vom Golf I
Die nie gewesene Baureihe A201 (A = Cabriolet), die gerade schick gemacht wird für die Titelstory der nächsten Autozeitung Klassik

Deutlich jünger als dieses Einzelstück von 1981 ist der „A201“ von 1988: ein durchaus serienreif scheinendes Cabriolet auf 190er-Basis, das trotzdem leider nur Vision blieb. Es trägt den gleichen grünen „Research & Development“ Aufkleber wie seine hochmodernen Nachfahren S65 und GT – und in seinem M103-Sechszylinder-Aggregat möglicherweise noch das original „Einfahröl“ – so zumindest lautet der handschriftliche Vermerk auf dem Luftfilterkasten.

Angelassen wird der Wagen in meinem Beisein nicht, dabei hätte ich ihn wirklich gerne eingefahren.

Auf 250 Treppenstufen in die historische Kommandozentrale

Vor dem leichten Mittagessen geht es nun zu unserer letzten Sightseeing-Station: den weithin sichtbaren Kontrollturm. Eine tonnenförmige Struktur auf einem Betonmast – wie ein alter Flughafen-Tower, der bisweilen auch genau diese Funktion innehat, doch dazu gleich mehr.

Ein enger Fahrstuhl befindet sich darin, und der war wohl schon ein Technik-Klassiker als der W201 hier seine ersten Testrunden drehte. Es dürfen immer nur wenige Personen hinein.

Herrn Knothe und Herrn von der Ohe wird das Warten vorm Lift zu langweilig. Die beiden Väter der Raumlenkerachse machen sich über das Treppenhaus zu Fuß auf den Weg nach oben. Ich folge aus reiner Neugier und hätte dies nicht getan, wenn ich vorher gewußt hätte, dass das 250 steile, teils rostige Treppenstufen bis zu unserem Ziel bedeutet.

Die Konstrukteure des „Sportmercedes“ sind selbst wahre Sportler

Als ich dort oben in gut 50 Metern Höhe etwas atemlos und sehr viel später als die beiden Pioniere eintreffe, sind die rein kalendarisch jeweils etwa doppelt so alten Herren schon wieder völlig entspannt im Gespräch mit den anderen Besuchern. Auch Herr Dr. Abthoff, Entwickler des Rekordmotors, kommt über das Treppenhaus nach oben. Ähnlich wie beim von ihm entwickelten Triebwerk M102 von Ermüdungserscheinungen keine Spur, aber dafür noch weit mehr Laufruhe.

Herr Knothe, späterer Baureihenchef der S-, SL- und SLK-Klasse, ist passionierter Biker. Und Herr von der Ohe (Jahrgang 1939) ist unter anderem als Windsurfer aktiv: manchmal sogar zweimal im Jahr vor der Nordküste Fuerteventuras auf meterhohen Brechern!

Jetzt überrascht mich gar nichts mehr. Nicht einmal der Ausblick von hier oben, wohl aber der Anblick der technischen Ausstattung in der Rotunde. Der Tower, der heute im Grunde nur noch die Funktion einer unbemannten Funk-Relaisstation für die Fahrzeugtelemetrie hat, sieht innen aus wie aus einem James-Bond-Film mit Roger Moore. Das Kontrollpult aus Edelstahl mit einer Phalanx aus Röhrenmonitoren der späten Siebziger Jahre, in die sich ASCII-Datenreihen eingebrannt haben und daher jetzt auch im ausgeschalteten Zustand noch lesbar sind.

Ein riesiger Übersichtsplan des Testgeländes befindet sich an der rückwärtigen Wand und per Deckenbefestigung schwebend über dem Kontrollpult eine Leuchttafel der Rundstrecke, bestehend aus hunderten kleiner Glühbirnchen, die alle Fahrspuren abbilden und bei Bedarf farbig aufleuchten, wenn Streckenabschnitte belegt, gefährdet oder gesperrt sind. Genausogut könnte es aber auch die Kontrolltafel eines James-Bond-Bösewichts sein. Jetzt fehlt nur noch „der Beisser“, der uns von hier oben wieder herunterscheucht.


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Dabei hat man ganz nebenbei einen hervorragenden Blick. Zum Beispiel über die L-förmige Schneise der beiden Bremsteststrecken mit der Dynamikfläche dazwischen. 750 Meter misst so eine Trasse und wird nach Aussage unserer Führerin tatsächlich hin und wieder als Landebahn für kleine Flugzeuge umgewidmet.

Runter geht es nun doch mit dem Fahrstuhl. So kann ich wenigstens von mir behaupten, in Nardò einmal einen echten Klassiker gefahren zu haben, auch wenn’s eben nur dieser lebensmüde Lift hier ist. Am morgigen Tag würde das zwar tatsächlich auch mit vielen der vierrädrigen Klassiker möglich sein – unter anderem sogar mit dem Bandabläufer der Baureihe 201 von 1993 – aber ich als Fotograf werde wohl zeitlich und mit meinem Gipsarm als Handicap kaum die Gelegenheit dazu haben.

Jetzt ist sowieso nur eines wichtig: endlich Material für Euch produzieren zu können! Ich bin doch als Fotograf hier – und irgendwie auch als Agent der Fancommunity des 201 – aber nicht als Tourist, als der ich mir jetzt vorkam! Mehr als einen in krakeliger Gipshandschrift vollgeschriebenen Notizblock hatte ich wegen des Foto- und Filmverbotes aber bis jetzt noch nicht vorzuweisen. Das waren für mich zwar schon einige Terabyte an fotographischem Gedächtnis kodiert in ein paar Stichwörtern, aber es ist extrem mühsam, diese hinterher wieder zu dechiffrieren. Ich hoffe sehr, dass ich einiges davon für Euch halbwegs lebensecht darstellen konnte und Ihr nun ebenfalls ein paar halbwegs gelungene Bilder im Kopf habt von diesem wunderbaren Tag auf der Teststrecke von Nardò.

Nachmittägliche Talkrunde mit den Helden von Nardò
– und einem unverhofften Stargast

Rückfahrt zum Hotel. Der Nachmittag bis zum Dinner steht allen zur freien Gestaltung. Sicher werden sich viele nach dieser Tour und vor dem langen Abend auf einen ausgiebigen Mittagsschlaf freuen. Doch daraus sollte durch mein Verschulden nichts werden.

Denn ich verabrede mich noch im Bus spontan mit Herrn Schäfer, Herrn Knothe und Herrn von der Ohe zu einem kleinen Interview für 16 Uhr. Sehr zu meiner Freude erklären sie sich sofort dazu bereit. Treffpunkt: die Hotellobby des Risorgimento Resort in Lecce.

Das römische Amphitheater in der Altstadt von Lecce. Hier hätte ich nur zu gerne das kleine Videointerview mit den Zeitzeugen aufgezeichnet. Doch aus dem Amphitheater wurde die Hotelloby, und aus der kleinen Runde dafür eine ganz große | Foto: Wikimedia Commons

Von da aus würde es gleich um die Ecke ins alte Amphitheater gehen, wo die drei Herren vor imposanter Kulisse einige meiner Interviewfragen in meine Kamera beantworten sollten. Eine Viertelstunde lang, so mein Plan. Höchstens 20 Minuten, denn ich will hier ungern zur Plage werden. Die Journalisten reisen ja an diesem Abend ebenfalls noch an und würden die Herren bald zu genüge in Beschlag nehmen.

Doch dann kommt alles ganz anders! Dem Vernehmen nach ist zwischenzeitlich Herr Prof. Breitschwerdt im Hotel eingetroffen. Der ehemalige Chef – sowohl was die Entwicklung des „Babybenz“, dessen Rekordfahrt, als auch den Daimler-Benz Konzern insgesamt betrifft – wäre natürlich die perfekte Ergänzung zu unserer kleinen Gesprächsrunde.

Jetzt oder nie – und Fragen kostet nichts! Ich lasse über eine Mitarbeiterin ausrichten, dass ich um 16 Uhr ein kurzes Video-Interview mit den Zeitzeugen mache und ich mich natürlich sehr freuen würde, wenn er ebenfalls Zeit und Lust hätte, zu uns zu stoßen.

Es ist kurz vor 16 Uhr. Herr Schäfer und Herr von der Ohe sind schon da. Ich freue mich sehr darüber. Während wir noch eben auf Herrn Knothe warten erkläre ich den beiden, was ich vorhabe, als ein nicht eben hochgewachsener älterer Herr mit silbernem Haar und fünfkommasechs-farbenem Pullover schnellen Schrittes die Lobby betritt und den Raum mit seiner Erscheinung sofort ausfüllt.

Der Chef im Interview

„Man sagte mir, ich würde hier um 16 Uhr erwartet!“

Jetzt war es amtlich. Ich, der Fotograf mit dem Gips am rechten Arm und dem 126er daheim in der Garage, hatte den Chefentwickler meines Autos und Vorstandsvorsitzenden a.D. der Daimler Benz AG zum Termin gebeten, den dieser – mit der Präzision einer Cäsium-Uhr – auch pflichtbewußt einhielt und mir nun ganz erwartungsvoll die Hand zur Begrüßung reicht. Das Orchester war bestellt, Karajan war gekommen – was jetzt?

Ensemble der glorreichen Baureihen, die unter der Regie von Prof. Breitschwerdt und seinen ehemaligen Mitarbeitern aus der Talkrunde entstanden sind: W201, W124, W126 | Foto: Daimler AG

Ich komme gar nicht groß zum Nachdenken. Mehr als eine halbe Stunde später wird Herr Prof. Dr.-Ing. e. H.  Werner Breitschwerdt denkwürdige Worte sprechen: „Müssen wir heut‘ abend eigentlich noch auf die Veranstaltung? Jetz‘ hen mer doch eigentlich eh scho alles g’schwätzt!“

Das aber sollte erst die Halbzeit markieren im Videointerview unten. Erkennbar fand das auch nicht im Amphitheater, sondern der Spontaneität geschuldet dann doch noch an Ort und Stelle in der Lobby statt. Denn nachdem Herr Prof. Breitschwerdt Platz geommen hatte, gesellten sich spontan auch alle weiteren Gesprächspartner und Neugierige hinzu – und ich bin dankbar, daß wir diesen Bereich so lange ungestört in Beschlag nehmen durften.

Einzig die bisweilen etwas laute Geräuschkulisse des Empfangsbereichs macht das Gespräch zur akustischen Herausforderung. Bis Herr von der Ohe für Ruhe sorgt. :-)

Auch wenn im Verlauf des Videos mehr als einmal Kollege Marc „Dreikommanull“ Christiansen als Moderator und hintergründiger Fragensteller fehlt: für mich als Fan, gehandicapter Kameramann und zittriger Interviewer in Personalunion ist dies ein wunderbarer Abschluss eines denkwürdigen Tages, der seinen offiziellen Programmhöhepunkt ja erst noch haben sollte: Cocktail-Empfang, Pressekonferenz und anschliessendes Gala-Dinner im Torre del Parco.

Für mich aber war schon jetzt Weihnachten, mitten im November!

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