Nette Menschen fahren einen roten Mercedes

Pagode_rotDer Hobbypsychologe weiß es längst: fährt man selbst einen roten Wagen, sieht man auch sonst nur noch rote Autos im Straßenverkehr. Diese Erfahrung kann ich leider nicht bestätigen. Die Neuzulassungen werden zwar immer bunter, aber die Autos draußen sind auch aus einem roten Auto heraus betrachtet noch immer überwiegend leasing-silver. Wenn ich aber die Autogazetten aufschlage, dann sehe auch ich immer öfter rot – oder besser: rotweiss!

Ihr denkt sicher: „jetzt kommt er wieder über ein fadenscheiniges Themenkonstrukt auf seine E-Klasse“. Stimmt, aber diesmal ist es ganz interessant! Es geht um ein Phänomen, das sich schon eine ganze Weile beobachten läßt, just auch diese Woche wieder.

Da zeigte sich nämlich am Dienstag der neueste Kompaktsportwagen aus Stuttgart erstmals offiziell der Weltöffentlichkeit. Von diesem frisch geschlüpften SLK der Baureihe R172 gibt es drei Pressefahrzeuge, deren Bilder im Daimler-Medienarchiv für Journalisten und Enthusiasten gleichermaßen frei zugänglich sind. Eines ist silber, eines champagner und das bei der Presse mit Abstand beliebteste ist rot mit hellem Leder-Interieur. Zu sehen auch in diesem kurzen Feature auf Mercedes-Benz TV:


R230Mopf_rotweissDies ist nur das neueste Beispiel aus einer langen Reihe von Premieren in rot. Alleine der große Bruder des SLK, der SL-Roadster (Foto rechts), kam für die Presse außen rot und innen beige von seinem Facelift zurück, der wohl letzten Modellpflege (Mopf) des R230 vor dem Modellwechsel. Und es gibt etliche weitere Beispiele, auf die wir noch kommen.

Zufall ist das sicher nicht, vielleicht eher Teil einer großangelegten Weltverschwörung? Ach wär‘ das toll, denn dann wäre ich endlich mal selbst Nutznießer davon. Ich stelle mit Schrecken, aber auch mit Genugtuung fest: meine außen rote und innen kieselfarbene E-Klasse ist ja sowas von im Trend!

Skeptisch am vermeintlich verkaufsfördernden Faktor dieses äußeren Merkmals darf man trotzdem sein. Wenn rotweiss nämlich neuerdings nicht nur an der Pommesbude für gute Abverkäufe sorgt, warum lag meine eigene rot-hellbeige Alltagsdiva ein geschlagenes halbes Jahr wie eine schimmelige Tomate traurig in der Auslage, bis man sie mir endlich (weil mit satten 40% Rabatt versehen) hinterherschmeissen konnte?

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Von 1,57 Millionen Fahrzeugen der Baureihe 211 sind vom Typ E500/E550 4MATIC nur gut 14.000 Stück gebaut worden. Beschränkt man sich auf die Modellpflege (E500 5,5), so sind es vielleicht noch 8000 Exemplare. Überträgt man darauf wiederum die Anteile der einzelnen Lackierungen, so dürfte es dieses Auto in rot nur ein paar Dutzend mal geben. Berücksichtigt man dann noch die Seltenheit einer „Kundenwunsch“-Außenfarbe von Chrysler und Maybach in Kombination mit einem designo-Interieur, so ist der „Rote Baron“ aus Hanau höchstwahrscheinlich einzigartig auf der Welt

S211Mopf_rotweissDie Verkaufsstatistik am Beispiel der extrem erfolgreichen Baureihe 211 spricht hierzu Bände: etwa 44% der Autos sind silber (dazu gehören dank Folienlackierung natürlich auch die meisten Taxis), knapp 18% schwarz und gut 12% der letzten E-Klasse sind blau. Dreiviertel der Käufer der ohnehin nicht sonderlich aufdringlichen E-Klasse wollen es ergo unauffällig, und auch das restliche Viertel hat sich eher von gedeckten Farben wie indiumgrau oder periklasgrün überzeugen lassen als von einem schrillen „red blaze chrystal“, das nichtmal zur Sonderaustattung designo gehört, sondern exotischer Kundenwunsch war. Und auch mir wäre etwas dezenteres anfangs lieber gewesen, hätte ich einen Neuwagen selbst konfigurieren können. Trotzdem gab es auf Wunsch der Marketingleute auch vom 211er ein rot-beiges Pressefahrzeug (Foto).

Rot ist nicht gleich rot

Es ist halt wie in der Politik: alle hätten’s zwar gern rot, nur wenn sie selbst drinsitzen müssen im Schlamassel, soll es für einen selbst lieber silber (oder doch gleich gold) sein! Die Vorbesitzerin meines Autos war demnach eine rote Extremistin, denn sie hat’s echt durchgezogen. Sogar als Leasingfahrzeug hat sie den Wagen durchgekriegt, obwohl der Bank die schlechten Wiederverkaufschancen doch hätten klar sein müssen. Oder hat man sich etwa auch von der Werbung blenden lassen?

A124_rotweissDabei – so erinnere ich mich noch – waren doch ab Mitte der Achtziger bis Anfang der Neunziger noch alle rot… zumindest die Autos. Und rot war auch nicht gleich rot. Es gab viele Nuancen. Mein eigener 2er-Golf zum Beispiel hatte im fortgeschritteneren Alter den gleichen Sonderlack wie die meisten Opels zu jener Zeit: mausrot! Und das ohne Aufpreis.

Im Luxussegment waren die Lacke eindeutig UV-beständiger. Sogar so sehr, daß man im sonnigen Südafrika eine erstmals rote Staatskarosse als Ideal für einen erstmals schwarzen Staatspräsidenten ansah. Und der saß darin auch noch auf schickem hellen Leder. Afrika ist und bleibt eben ein Kontinent der Kontraste.

Rote Daimler sind staatstragend

Die Belegschaft des Mercedes-Benz Werks in East London (Südafrika) fertigte damals in Freischichten jenen legendären roten 500 SE unsrer geliebten Baureihe 126 als Geschenk für den 1990 aus der Haft entlassenen Nelson Mandela.

500SE_Nelson_Mandela

Doch dann schlugen die Neunziger voll durch und auch gleich auf den Magen. Das vorherrschende Lackierungs-Spektrum verschob sich abrupt richtung Kurzwelle, auch bei Mercedes.

Menschen, die alsbald mit aubergin-farbenen Blazern in türkisen Blechkeidern unterwegs waren, mußten entweder farbenblind oder gänzlich umnachtet sein. Letzteres wird schon dadurch untermauert, daß meinem V126 vor einiger Zeit ein R170 (Ur-SLK) in unbeschreiblichem prismatingrün-metallic rückwärts in den Kühlergrill fuhr. Der Fahrer trug zwar in jenem Jahr keinen Blazer mkt Schulterpolstern mehr, war aber hohes Tier bei einer großen deutschen Oldtimer-Zeitschrift… Shit happens! Wer will es ihm verdenken, angesichts seiner Vorbildfunktion und im Anblick seines eigenen Autos manchmal nur noch die Augen zu schließen und einfach rückwärts zu fahren, bis es nicht mehr weitergeht?

F200Im selben Jahr, in dem der erste SLK zu den Händlern kam, stand der F 200 (Foto rechts) auf dem Autosalon in Paris. Vorgestellt als Blick in die damals noch ferne Autozukunft wurde die Studie Mitte der Neunziger zum Vorboten diverser Neuerungen, die zum Teil heute erst Alltag auch bei anderen Autoherstellern sind. Gottseidank gehören Joystick-Lenkung und insbesondere die Lackierung nicht dazu.

Vielleicht auch aus Gründen der Verkehrssicherheit, vor allem aber der Ästhetik zuliebe entsättigte sich das Straßenbild im Laufe der Zweitausender Jahre zusehends. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts hatte sogar eine reine Schwarzweißmalerei ihren vorläufigen Höhepunkt. Je ähnlicher ein Auto einem imperialen Stormtrooper aus „Star Wars“ sah, umso modischer war es. Moderne KdF-Wagen aus Wolfsburg, Ingolstadt oder Stuttgart-Zuffenhausen dürfen sogar heute noch gerne weiß oder schwarz sein bei ihrer feierlichen Premiere. Nicht so beim Daimler.

Rote Daimler sind innovativ

Der StrichAchter-Liebhaber staunte nicht schlecht, als er Mitte der Zweitausender Jahre plötzlich wieder Lackstifte in „karneolrot“ beim Freundlichen Mercedespartner ordern konnte. Eine Farbe, die seit 1976 als für immer verblasst galt. Was war passiert? Das war passiert:

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Die Baureihe C219 basiert auf der E-Klasse W211. Als „Vision CLS“ wird das Format (links im Bild) 2003 in carneolrot vorgestellt und schlug ein wie eine Bombe. Der CLS geht daraufhin schon im Herbst 2004 nahezu unverändert in Serie. Nachfolger ist der C218 (rechts), der in wenigen Tagen in die Verkaufsräume kommen wird. Das am meisten herumgereichte Pressefahrzeug bei seiner Neuvorstellung hatte als wichtigstes Ausstattungsmerkmal eine rot-beige Farbkombination!  | Foto: Daimler AG

CLS_W218_rotweissIn Zeiten zeitgeistlicher Farb- und Freudlosgkeit stellt Daimler plötzlich nicht nur ein neues Automodell, sondern eine ganz neue Autogattung vor, nämlich das „viertürige Coupé“ in Gestalt der damals neuen CLS-Klasse (im Foto oben links), und zudem in einer sehr traditionsschwanger klingenden Farbe: carneolrot! Die ist zwar m.W. nicht identisch mit karneolrot aus den Siebzigern, aber trotzdem klassisch schön! Auch sein Nachfolger (links) kommt bei seiner Premiere natürlich in rot daher, mit hellem Interieur.

Rote Daimler sind schneller

R129_rot_WindkanalDer neuartige CLS hatte einen konkurrenzlos niedrigen Luftwiderstands-Beiwert. Kein Wunder, denn beim Daimler (und bei der Feuerwehr) weiß man schon lange, daß rote Autos einfach schneller sind! Selbst Tests im Windkanal (rechts am Beispiel eines SL-Roadsters der Baureihe 129) konnten das veranschaulichen. Ich weiß es sowieso aus eigener, manchmal leidvoller Erfahrung, und wer’s nicht glaubt, darf gerne bei der Rennleitung in Flensburg nachfragen… Im Umkehrschluß sind orange Fahrzeuge extrem langsam und blockieren manchmal sogar die Straße vorm Haus. Achtet mal darauf!

Rote Daimler sind sicherer

Rotweiss ist nicht nur schnell, sondern auch sicher. Es ist die Farbe der Schweiz, des Roten Kreuzes und es schützt vor Schlimmerem. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das in der Familiengeschichte des Kollegen Marc „Dreikommanull“ Christiansen, als 1976 dessen Vater in einem StrichAchter des frühen Typs 240D Dreikommanull verunglückt.

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Trotz des furchtbaren Anblicks mit schmerzverzerrter Miene und abgebrochenem Stern ist nichts weiter passiert. Der Wagen ist hinüber, hat seinen Insassen aber zuverlässig geschützt. Die Farbe: außen englischrot, innen pergament. Nicht auszudenken, wie viel weniger Lesestoff wir auf fünfkommasechs.de heute hätten, wäre der Christiansche Wagen damals grün – oder gar ein Opel – gewesen!

Rote Daimler sind klassisch

Fluegeltuerer_Generationen_rotweissRotweiss kann das Leben würzen. Es ist Rote Grütze mit Vanillesoße, Erdbeeren mit Sahne, aber auch Ketchup mit Majo und Engländer am Strand… doch nicht nur das! Es ist einfach klassisch schön und schlägt bei automobilen Neuvorstellungen heute zuverlässig die Brücke zu den ikonenhaften Klassikern von damals.

Traditionspflege ist wichtig, Emotionen sind es im Marketing erst recht. Bestes Beispiel war jüngst auch der W197, der erste legitime Seriennachfolger des Mythos W198-Flügeltürer.

Das mit Abstand prominenteste weil meistgezeigte Pressefahrzeug trug außen rot und innen weiß. Wer nach über fünfzig Jahren in derart großes Fußstapfen zu treten wagt und den Vater aller Supersportwagen beerben möchte, handelt sicher mit Bedacht. Die für diesen Meilenstein der Autogeschichte auserwählte Farbkombination dürfte dann wohl auch mit Fug und Recht als das Symbol automobiler Wunschträume schlechthin gelten:

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Rote Daimler sind visionär

Und der Schöpfer vieler weiterer automobiler Wunschträume der letzten 40 Jahre? Der sitzt gemütlich im wohlverdienten Unruhestand und läßt sich für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung bisweilen vor den großen Werken seiner Schaffenszeit als „Leiter der Hauptabteilung Stilistik“ ablichten. Die Farbe des avantgardistischen CLK (Baureihe 208) aus der Feder des gebürtigen Italieners Bruno Sacco? Rosso, naturalmente!

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Wenig überraschend ist, daß die weiteren abgebildeten Sacco-Schöpfungen auf dieser Zeitungsseite ebenfalls rot sind. Bis auf einen: den Hundertsechsundzwanziger, Saccos vielleicht größtes Meisterwerk! Doch auch der entfaltet seinen vollen Geschmack wohl erst in rot. Zum Beispiel barolorot! Er darf in diesem roten Panoptikum also nicht fehlen, gerade in diesen Tagen: die Rede ist vom wohl rotesten Mercedes aller Zeiten von Willi „Obiana“ Oberhoff.

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Der roteste Daimler aller Zeiten

1051362954_olli_stork_schrauberkraenzchen_034Um den machen wir uns Sorgen, denn er (der 300er, nicht der Willi) hockt in diesen Monaten hilflos in seiner Garage und hält Winterschlaf. Ein Schlaf des Ahnungslosen, denn die Garage befindet sich direkt am Rhein und momentan sogar unterhalb des Wasserspiegels. Der „Barolorote“ kann nicht weg, sebst wenn er wollte. Aber noch halten die Dämme und hoffentlich sinkt der Pegel rasch.

Genau wie ich hätte auch Willi es sich wohl nicht träumen lassen, einmal um ein rotes Auto zu bangen, geschweige denn eines selbst zu besitzen. Doch längst ist es nicht mehr sein einziger roter Stern, denn nette Menschen fahren eben einen roten Mercedes! Wer mehr über die merkwürdige Anziehungskraft der Farbe (barolo)rot erfahren und sich vor allem bestens unterhalten lassen möchte, lese bitte unbedingt hier weiter: [KLICK]

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Derweil wünschen wir Euch allen ein wunderbares und möglichst trockenes Wochenende, vielleicht bei einem Gläschen Barolo, und eine noch viel trockenere und schöne neue Woche! Ein Dank für die Überschrift sei hiermit noch nachgereicht an Felix Kühn, der mir das sloganhafte Axiom „Nette Menschen fahren einen roten Mercedes“ einst aufschrieb, als er von der Anschaffung meines roten 211ers erfuhr. Mindestens in seinem Falle ist die Behauptung, wir seien nette Menschen, weder selbstlos noch unbegründet :-)

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